„Selbstsicherheit“ gehörte als Kind und junge Erwachsene eher nicht zu meinen Stärken. Aufgewachsen bin ich zwar mit einer unglücklichen Mutter und einem abwesenden Vater, aber einer Zwillingsschwester, tollen, niederländischen Großeltern und in guten, mittelschichtigen Verhältnissen. Als ich 11 war, kam noch ein Brüderchen „hinterher“, den ich mit großgezogen habe. Ich hatte Freunde und Freundinnen und wir hatten meistens auch Hunde zuhause. So weit, so gut. Trotz allem fühlte ich mich als Kind und Jugendliche nicht selbstbewusst, nicht selbstsicher, war schüchtern, zurückhaltend und habe die Klappe nicht wirklich aufgekriegt.
Als Kind hatte ich auch etwas Lernschwierigkeiten und wollte partout die Uhr nicht lesen lernen und Mathe war auch nie mein Fall. Auf meiner Schulbank bin ich regelmäßig einpennt, weil ich mich nicht langfristig auf die für mich eher uninteressanten und irrelevanten Themen konzentrieren konnte. Dafür habe ich mich für Kunst, Malen, vor allem aber Reiten interessiert. Ich hatte sogar einige Jahre ein eigenes Pony, zusammen mit meiner Schwester. Als Kind war ich allerdings erstmal gar nicht so die Sportskanone. Ich erinnere mich, dass ich bei Ballsportarten wie Volleyball immer mit als letzte für die Mannschaft ausgewählt wurde (Darunter haben sicher schon viele „Sportnieten“ gelitten. Eine sehr unpädagogische Praxis, wie ich finde).
Auch beim Geräteturnen hing ich schlapp in den Seilen. Es wurde aber besser! Mit ca. 13 wurden meine Schwester und ich aktiv in der AG Geräteturnen unserer Gesamtschule. Das hat mir echt Spaß gemacht und ich merkte, dass ich wohl doch Talent hatte und die Kraft kommt beim „machen“! Damals fing ich kurzzeitig auch an mit Fußball im Verein und vielerlei anderen sportliche Aktivitäten wie Tischtennis, Federball, Schlittschuhlaufen und letztlich unzählige weitere Sportarten. Sporttreiben wurde insofern langsam ein wichtiger Bestandteil in meinem Leben, was auch gut so ist, denn bis heute, mit fast 60, bin ich immer noch fit und ohne körperliche Beschwerden. Insofern kann ich immer nur empfehlen: Bewegt Euch, Leute! Und lasst Euch nicht sofort abschrecken, wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert. Ich habe auch mehrere Anläufe in mehreren Sportarten benötigt, um jetzt so ziemlich alles ausüben zu können. Jedenfalls gibt es nichts, was ich nicht zumindest probieren würde 😉
Da ich meist kein Auto besessen habe, bin ich als Jugendliche/junge Erwachsene schon viel Fahrrad gefahren, habe aber dunkle Wege vermieden, wenn ich alleine unterwegs war. Ich war sowieso ein eher ängstlicher und unsicherer Typ. Das hat sich schnell geändert, als ich das Kung Fu kennenlernte! Ich war schon von Jugend an an Kampfkünsten interessiert, hatte aber irgendwie nie den Hintern hoch gekriegt. 1991 war es dann (erst, aber endlich) soweit. Das erste Probetraining im Seven Star Mantis Kung Fu-Verein in Münster und ich war infiziert! Schon beim Zuschauen war ich fasziniert von den akrobatischen Bewegungsabläufen, dem Umgang mit traditionellen chinesischen Waffen und von der ganzen Energie und Dynamik, die diese Bewegungskunst mit sich bringt.
Ich habe mich von da an ordentlich ins Zeug gelegt. 4 x die Woche Training und jede Sonderveranstaltung, Lehrgänge und Trainingsreisen zudem mitgenommen (außer nach Hong Kong zum Großmeister Lee Kam Wing, dafür war meine Flugangst damals zu groß, dazu aber mehr in einem anderen Blog). Ich habe trainiert wie besessen. Es gab kein Training, das ich ausgelassen habe. Da konnte kommen was wollte, ich MUSSTE zum Training! Es war wie ein Sog, vielleicht sogar eine Art Sucht!? Gleichzeitig hat sich das Training positiv auf meinen Rücken ausgewirkt. Ich war nämlich eher dünn, mehr der „zerbrechliche“ Typ und hatte eine schwache Rückenmuskulatur und damit auch häufiger Rückenschmerzen. Nach wenigen Monaten Training ging es meinem Rücken super und ich habe seit dem (seit über 30 Jahren) nie wieder Probleme mit Rückenbeschwerden gehabt!
Ein weiterer grandioser Effekt war; nach nur wenigen Monaten Kung Fu habe ich mich schon getraut, auch einsame Wege im Dunkeln alleine mit dem Rad zu fahren. Bei einer brenzligen Situation an einem abgelegenen Ort habe ich direkt Techniken im Hinterkopf abrufen können und mich somit entsprechend selbstsicher gezeigt, so dass es zu keiner weiteren Eskalation gekommen ist. Ich war happy und fühlte mich stark, mutig und unangreifbar. Das geht mir bis heute noch so. Ich war zwar schon in Situationen, die hätten eskalieren können, aber ich fühle mich immer sicher und geschützt, da ich weiß was ich kann und dass ich schnell reagieren kann. Das A&O!
Wie gut man Reaktionsfähigkeit lernt und das auch perfekt im Alltag anwenden kann, habe ich schon oft feststellen können. Wie oft habe ich durch Blitzreaktionen Unfälle vermieden. Auch eine Schülerin von mir hat durch eine schnelle Block-Reaktion vermieden, dass sie die Autorhaube ihres Autos erschlägt! Witzig war auch, wie ich im Supermarkt vorm Brotregal stand, der Mann neben mir von ganz oben ein Brot nehmen wollte und dabei 2 Packungen Toastbrot runterfielen. Ohne wirklich hingeguckt zu haben, habe ich mit beiden Hände beide Packungen in der Luft aufgefangen. Ihr hättet mal das Gesicht des Typen sehen sollen 😉
Die Kampfkunst hat mir zudem eine Art Halt gegeben, eine starke Gemeinschaft, eine Familie. Die Kung Fu-Familie. Dort nennt man seine Sportkameraden auch Kung Fu-Brüder und -schwestern. Ich habe Freundschaften geschlossen, und – neben Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Gleichgewicht uvm – auch Disziplin, Selbstkontrolle, Selbstsicherheit gelernt. Integriert in das klassische Kung Fu-Training sind aber auch Tai Chi und Qi Gong. Das heißt, man lernt auch, sich zu beherrschen, seine Mitte mehr zu finden, sich zu konzentrieren, runterzukommen.
Nach 3-4 Jahren intensiven Trainings, habe ich dann und wann auch mal das Training angeleitet, später hatte ich feste Tage, in denen ich die Trainerin im Verein war. Ich habe mich weiterhin mit viel Freude und Engagement „durchgeboxt“, habe nach und nach eine Prüfung nach der anderen absolivert und letztlich die erste Schwarzgurtprüfung (in Anwesenheit unseres hongkonger Großmeisters) abgelegt und ca. 2 Jahre später die zweite. Ich habe mich gut, stark, sicher, integriert und aufgehoben gefühlt. Auch verschiedene Meisterschaften habe ich absolviert, diverse Medallien abgeräumt und sogar 1995 den 1. Platz als Gesamtsiegerin der Osnabrücken Offenen Meisterschaften nach Hause geholt.
Es ergab sich zu dieser Zeit, dass ich das Abitur auf dem 2. Bildungsweg nachgeholt hatte und dann war die Frage, welches Studium ich anschließe. Da ich so begeistert und fasziniert von den Kampfkünsten und Sport im Allgemeinen war, gleichzeitig aber redaktionell bei einem Münsteraner Wochenmagazin gearbeitet hatte, habe ich mich für die Kombination Sportwissenschaften, Kommunikationswissenschaften (damals noch Publizistik) und Soziologie entschieden. Ziel war ursprünglich der Sportjournalismus, was ich mir aber sehr schnell aus dem Kopf geschlagen haben, nachdem ich meine Leidenschaft für die Sporttherapie und Sportmedizin entdeckte. Ich war auch begeistert, wie gut ich noch (mit 30) mit den jungen Sportstudenten/innen mithalten konnte, sei es beim Hockey, Tischtennis, Geräteturnen o.a. Der Vorteil war, dass ich zum einen schon in vielen Sportbereichen Vorerfahrungen hatte, zum anderen, dass das Kung Fu den Körper in vielerlei Hinsicht beansprucht, formt und austrainiert. Ich war kräftig und gelenkig und fit. Und das, obwohl ich damals noch geraucht habe (das habe ich zum Glück ca. 2007 an den Nagel gehängt. Furchbares Laster!)
Das Studium wurde gekrönt mit meiner empirischen Magisterarbeit über das Thema „Der Einfluss eines achtwöchtigen Kung Fu Trainings auf die sensomotische Leistungsfähigkeit des Rückenmuskulatur und das Gleichgewicht“. Ich hatte insgesamt 40 Teilnehmer/innen (Kontroll- und Versuchsgruppe) mit Rückenbeschwerden organisiert, mit denen ich verschiedene Messungen im Sportmedizinischen Institut vorgenommen habe, die mir Fragebogen ausgefüllt haben und die ich zur Hälfte auch 8 Wochen lang trainiert habe. Das war zwar die stressigste Zeit meines Lebens (neben dem ganzen Aufwand habe ich auch immer noch Halbtags gearbeitet), Fazit der Magisterarbeit war aber schließlich, dass es sich signifikat positiv sowohl auf den Rücken (Kraft, Sensomotorik, subjektives Schmerzempfinden), als auch auf das Gleichgewicht auswirkt! Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits 13 Jahre Kung Fu auf dem Buckel. Mehrere Fortbildungen und Praktika im Bereich Sporttherapie haben meinen Wunsch verstärkt, in dem Bereich auch beruflich tätig sein zu wollen.
Mein Ziel war es also, nach dem Studium in der Sporttherapie zu arbeiten und zudem Menschen mit Rückenbeschwerden mit Kung Fu zu trainieren. Dann gab es leider Probleme mit einer anderen Person im Verein, so dass ich ausgestiegen bin, zur gleichen Zeit mit Kickboxen begonnen habe und im Frauensportverein weiterhin Kung Fu unterrichtet habe. Das insgesamt 10 Jahre lang.
Da meine Suche nach Jobs in der Sporttherapie lange erfolglos war, habe ich mich letztlich selbständig gemacht mit einer Kombination aus Klopfakupressur (Energetische Psychologie gegen Ängste, und viele andere belastende Emotionen), sportwissenschaftlicher Beratung, Raucherentwöhnung und Selbstverteidigungstraining. Ich hatte dies damals auch schon „Selbstwertcoaching“ genannt, da alle die Angebote dazu dienten, den Selbstwert zu erhöhen. Ich habe freiberuflich also auch weiterhin Training gegeben und habe Kickboxen mit Kung Fu und anderen Kampfkünsten kombiniert, die ich nach und nach kennengelernt hatte (z.B. Ju Jutsu-Kurse hatte ich immer mal wieder besucht oder auch ein halbes Jahr Karate eingebaut. Da hat es mir dann aber letztlich die Knie zerbröselt, so dass ich wieder einen Gang zurückgeschaltet habe).
2018 lief mir dann „zufällig“ mein ehemaliger Kung Fu Trainer/Sifu Nicolai wieder über den Weg. Ich entschied mich, wieder einzusteigen und war wieder aktiv, wenn auch eingeschränkter als im „ersten Block“. Die junge Generation hat hier das Ruder nun übernommen. 2020 erhielt ich letztlich die Auszeichnung „6. Level Instructor Kung Fu/Sifu von meinem Sifu, mit Zustimmung unseres Großmeisters Lee Kam Wing. Das hat mich wirklich geehrt. Letztlich bin dem Stil ja auch seit über 30 Jahren treu geblieben. Bis heute bin ich immer noch, im eingeschränkten Maße, im Verein mit dabei.
Mit meinen freiberuflichen Schülern und Schülerinnen mache ich tolle Erfahrungen. Einige sind schon seit vielen Jahren bei mir und haben auch schon Gürtelprüfungen absolviert. Es ist einfach herrlich zu sehen, wie Menschen wachsen, wie sie die schwierigen Stufen der Kung Fu-Ausbildung absolvieren, die Beherrschung von Körper und Geist lernen und damit auch ihr Selbstbewusstsein erhöhen. Ich unterrichte aber auch anderes, wie Rückentraining, Bauch-Beine-Po, Steching u.a. im Personal Training. Tai Chi und Chi Gong integriere ich oft ins Selbstsicherheitstraining. Yin und Yang. Hart und weich. Langsam und schnell, Innen und Außen. Kung Fu heißt wörtlich übersetzt „Harte Arbeit“. Ja, und das ist es. Lebenslanges Lernen nicht ausgeschlossen. Ich bin sehr froh, dass ich diesen Weg damals eingeschlagen habe und kann das Erlernen von Kampfkünsten jedermann & -frau aus vollem Herzen empfehlen!